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Preisträger*innen 2022

PreisträgerInnen_2021
alle Fotos: Thomas Müller, Weimar

Die Preisträgerinnen und Preisträger Anna Strommenger, Jan-Philipp Pomplun, Christian Dietrich, Hendrik Geiling, Louisa Charlotte Niesen und Paula Kreutzmann (v.l.n.r.) mit dem Vorsitzenden des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik Prof. Dr. Michael Dreyer (1.v.l.)

2021 haben die Forschungsstelle Weimarer Republik und der Verein Weimarer Republik zum sechsten Mal Preise für Forschungsarbeiten zur Weimarer Republik ausgeschrieben. Sie wurden am 24. Februar 2022 im Rahmen der internationalen Konferenz "Föderalismus in der Weimarer Republik. Bollwerk oder Untergrabung der Demokratie?" in Weimar verliehen. Die Resonanz auf die Auslobung der Preise war in allen Kategorien sehr hoch. Die Jury hat sich daher im Fall des Hugo-Preuß-Preises und des Friedrich-Ebert-Preises für eine Teilung des Preises entschieden.

Die Preise gingen im Jahr 2022 an:

Friedrich-Ebert-Preis für die beste Dissertation oder Habilitation

Dietrich_2021

PD Dr. Christian Dietrich

Im Schatten August Bebels. Positionen der deutschen Sozialdemokratie zu Antisemitismus und Zionismus in der Weimarer Republik

Habilitation an der Europa Universität Viadrina, betreut von Prof. Dr. Werner Benecke, Prof. Dr. Mario Keßler (Universität Potsdam) und Prof. Dr. Michael Brenner (American University, Washington, D.C.)

Aus der Laudatio der Jury:

Mit seiner Habilitation legt Christian Dietrich die bislang umfassendste Analyse zur Antisemitismusdebatte innerhalb der SPD in der Zwischenkriegszeit sowie die erste größere Studie zum Verhältnis der Partei zum frühen Zionismus vor. Anknüpfend an den titelgebenden Namen August Bebels zeichnet der Autor eindrucksvoll und detailliert nach, wie die Partei (bzw. in der Frühphase der Republik „die Parteien“), ausgehend von den Bebelschen Thesen, ihre Interpretation des Antisemitismus sowie den praktischen Umgang hiermit modifizierte oder eben ältere ideengeschichtliche Parteitraditionen fortführte(n). Zentral für das Verständnis von Konflikt, Wandel oder Fortführung sind hierbei, so die überzeugende Argumentation des Autors, die geänderten Akteurskonstellationen infolge des Zusammenbruchs des Kaiserreichs und die Destabilisierung der Weimarer Republik durch die Weltwirtschaftskrise. Wie Herr Dietrich elaboriert und eloquent nachweist, hatte zum Beispiel die Gründung der Republik und das staatstragende Verhältnis, das die SPD ihr gegenüber einnahm, zur Konsequenz, dass der Kampf gegen Antisemitismus nach 1919 weitgehend aus dem Blickwinkel des Republikschutzes wahrgenommen und umgesetzt wurde. Größere Kontinuität zeigte sich dagegen beispielweise bei der Interpretation der Rolle des politischen Antisemitismus. So verstand die Partei diesen auch weiterhin im Wesentlichen als Mittel zur Entzweiung der Arbeiterschaft und bewusste „Ablenkung“ der Arbeiter*innen vom eigentlich entscheidenden Klassengegensatz. Dementsprechend stützte sich die SPD stark auf das erprobte Mittel der Aufklärung als Gegenstrategie, das sich jedoch in den späten 1920er Jahren mit der wachsenden Stärke der NSDAP, für die der Antisemitismus eben nicht funktionalistisches Mittel zum Machterwerb, sondern eine weltanschauliche Kernüberzeugung bildete, als zunehmend ineffektiv erwies.

Was die Arbeit von Herrn Dietrich in besonderem Maße auszeichnet, ist die umfassende Breite des zugrundeliegenden Quellenmaterials und die daraus folgende multiperspektivische Erfassung des Untersuchungsgegenstandes. So wird der partieinterne Diskurs und dessen öffentliche Umsetzung über Reden ausgewählter Politiker*innen, die Reichstags-/Landtagsprotokolle, insgesamt 8 sozialdemokratische Periodika, Parteitagsdokumente und zahllose programmatische Publikationen erarbeitet. Perspektivisch werden die Auseinandersetzungen nicht nur auf Reichs- und Länderebene, sondern teilweise auch auf lokaler Ebene sowie über zentrale Akteure jenseits der Sozialdemokratie, wie das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold oder den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens beleuchtet. Herr Dietrich liefert damit eine äußerst facettenreiche und eindrückliche Gesamtschau der Dynamiken parteiinterner Diskursentwicklung innerhalb der SPD der Zwischenkriegszeit, für die ihn die Jury beglückwünscht und mit dem Friedrich-Ebert-Preis 2022 auszeichnet.

Pomplun_2021

Jan-Philipp Pomplun, M.A.

Deutsche Freikorps: Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus

Dissertation an der Technischen Universität Berlin, betreut von Prof. Dr. Wolfgang Benz und Prof. Dr. Michael Grüttner

Aus der Laudatio der Jury:

In seiner Dissertation widmet sich Jan-Philipp Pomplun einem Aspekt der Geschichte der Weimarer Republik, der zwar häufige Erwähnung, in dieser Akribie und analytischen Genauigkeit aber selten empirische Entsprechung findet, den deutschen Freikorps. Sowohl methodisch als auch im Ergebnis innovativ untersucht der Autor in einer quantitativen Erhebung das Sozialprofil und den persönlichen Lebenshintergrund von Freikorpsangehörigen, um daran anschließend die bislang vertretenen wissenschaftlichen Thesen zu Herkunft, Motivation und Radikalisierung der Paramilitärs zu prüfen. Grundlage der Untersuchung bilden die Stammrollen von insgesamt 11 Freikorps aus dem Südwesten der Republik mit ca. 20.000 Angehörigen, aus denen wiederum ein repräsentatives Sample von rund 3.200 Personen einer intensiveren Analyse unterzogen wird.

Hierbei gelingt es Herrn Pomplun in eindrucksvoller Weise, den bestehenden Erkenntnisstand zur Thematik zu erweitern, zentrale bestehende und zumeist rein qualitativ untersuchte Annahmen über deren Herkunft zu revidieren und neue Thesen zu generieren, an denen sich die zukünftige Forschung messen lassen muss. So zeigt die Analyse, dass entgegen den bisherigen Annahmen gerade nicht ehemalige Offiziere, Studenten und Militärkadetten innerhalb der Freikorps überrepräsentiert waren, sondern einfache Arbeiter. Auch die bislang weitgehend akzeptierte These einer aus Abstiegsfurcht oder ‑erfahrung begründeten Motivation kann von Pomplun (mit Ausnahme für die Führungskader der Freikorps) zurückgewiesen werden. Dem weitreichenden Anspruch der Arbeit entsprechend, überprüft der Autor abschließend auch die Frage, inwieweit die Freikorps als Rekrutierungspool des Nationalsozialismus dienten bzw. eine personelle Kontinuität zwischen beiden beobachtbar ist. Unter Nutzung der Mitgliederlisten der NSDAP, SA und SS weist er dabei nach, dass Freikorpsmitglieder, entgegen der Erwartung, nur im Durchschnitt der männlichen Gesamtbevölkerung der NSDAP und in noch geringerem Maße der SA bzw. SS beitraten, auch wenn bedeutende Führungspersönlichkeiten des NS aus dem Freikorpsmilieu stammten.

Neben diesen bedeutenden und herausfordernden Forschungsergebnissen zeichnet sich die Arbeit zudem durch ihre umfassende Material- und Quellengrundlage, als auch ihren Detailreichtum sowie ein erhebliches Maß an analytischer Selbstreflektion aus. Aufgrund des herausgehobenen Forschungsbeitrags zu den Freikorps und der innovativen quantitativen Umsetzung freut sich die Jury, die Arbeit von Herrn Pomplun mit dem Friedrich-Ebert-Preis 2022 auszeichnen zu dürfen.

Strommenger_2021

Dr. des. Anna Strommenger

Zwischen Herkunft und Zukunft. 'Heimat' in der sozialistischen Arbeiterbewegung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

Dissertation an der Universität Duisburg-Essen, betreut von Prof. Dr. Frank Becker und apl. Prof. Dr. Jens Jäger (Universität zu Köln)

Aus der Laudatio der Jury:

Anna Strommenger setzt mit ihrer Dissertation an einem bislang wenig beachteten Aspekt der Identitäts- und Traditionsbildung der sozialistischen/sozialdemokratischen Arbeiterbewegung an, dem Umgang mit dem Begriff „Heimat“. Gerade vor dem Hintergrund des Systemwechsels vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und dem damit einhergehenden geänderten Verhältnis der Sozialdemokratie zum deutschen Staat zeichnet die Autorin exzellent die vielschichtigen und von erheblichen Ambivalenzen geprägten Beziehungen der Arbeiterbewegung zum Begriff der Heimat nach. Die Arbeit beruht dabei auf einer vergleichenden Regionalstudie, die über einen Methodenmix und eine mannigfaltige Quellengrundlage den Diskurs über „Heimat“ innerhalb der Pfalz und Sachsen von 1871 bis 1933 untersucht.

Besonders auszeichnend und innovativ ist dabei aber nicht nur, dass Frau Strommenger mit dem Heimatkonzept der politischen Linken auf ein, im Gegensatz zum „bürgerlichen“ Heimatbegriff, wissenschaftlich bislang fast gar nicht untersuchtes Problem zurückgreift, sondern dieses auch analytisch umfassender als bisherige Studien begreift. So geht es ihr nicht allein um den abstrakten Begriffsdiskurs in den sozialistischen Medien und Organisationen, sondern insbesondere auch darum, die Rückwirkungen dieser Debatten auf das praktische Handeln der Arbeiterschaft im Bereich der Identitätsbildung zu untersuchen. In Abgrenzung zum „bürgerlichen“ Heimatbegriff gelingt es der Autorin dabei in exzellenter Weise herauszuarbeiten, wie das „proletarische“ Pendant sich einerseits durch eine klare Zukunftsorientierung und das Verständnis von „Heimat“ als Anweisung zum praktischen Handeln abgrenzte, andererseits aber auch gewisse Überschneidungen, wie zum Beispiel in der Rolle der Natur (wenn auch mit einem anderen Rezeptionsschwerpunkt), aufwies.

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Bemühungen um die Aufarbeitung einer spezifischen deutschen Demokratiegeschichte und demokratischen Traditionsbildung, an der sich auch die Forschungsstelle Weimarer Republik und der Weimarer Republik e.V. aktiv beteiligen, ist Frau Strommengers Nachzeichnung ähnlich gelagerter Prozesse für die Sozialdemokratie der Weimarer Republik als wegweisend und von besonderer aktueller Relevanz einzuordnen. Daher freut sich die Jury, ihre Dissertation mit dem Friedrich-Ebert-Preis 2022 auszuzeichnen zu dürfen.

Hugo-Preuß-Preis für die beste Masterarbeit

Niesen_2021

Louisa Charlotte Niesen, M.A.

Modern Women? On Practices and Experiences of 'Modernity' in the Everyday Lives of Female White-Collar Employees in the Weimar Republic

Masterarbeit an der Utrecht University, betreut von Ass. Prof. Dr. Jochen Hung und Ass. Prof. Dr. Pieter Huistra

Aus der Laudatio der Jury:

Louisa Charlotte Niesens exzellente Masterarbeit setzt an einem der vielleicht umstrittensten Aspekte der Geschlechtergeschichte zur Weimarer Republik an, nämlich an der Frage, inwieweit die politischen und sozialen Freiräume, die die Republik für Frauen schuf, zu einem Wandel des abstrakten Frauenbilds, einer verbesserten materiellen Rolle in Gesellschaft und in Politik sowie zu neuen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten führte. Hieraus erwächst in der Forschung die allgemeine Frage, ob und in welchem Maße das häufig mit der Weimarer Republik assoziierte Bild der „modernen“ oder „neuen Frau“ tatsächlich zutreffend bzw. gerechtfertigt ist. Genau dieser Problematik widmet sich Frau Niesen in ihrer Untersuchung, aber aus einem völlig neuen und hervorragend umgesetzten Blickwinkel. So versucht sie im Wesentlichen über zeitgenössische Egodokumente herauszuarbeiten, in welchem Maße sich berufsstätige Frauen der Mittelschicht selbst über dieses Konzept definierten bzw. welche Rolle „Moderne“ für sie in ihrem Alltagsleben spielte.

Die Autorin fasst „Moderne“ hierbei unter den drei Aspekten der Rationalisierung, Bürokratisierung und sozialen Disziplinierung , deren Auswirkungen sowohl auf den Arbeitsalltag als auch das Privatleben der betreffenden Frauen untersucht werden. Es gelingt ihr hierbei eindrucksvoll die vielfältigen Spannungsverhältnisse, in die die Moderne berufstätige Frauen brachte, nachzuzeichnen sowie die damit verbundenen Ambivalenzen und Konflikte in der Wahrnehmung ihrer eigenen Rolle und der Bedeutung der Moderne hierfür aufzuzeigen. So machten sich die Betroffenen aktiv bewusst, wie Modernität ihr eigenes Leben beeinflusste, wobei dieser Einfluss jedoch nicht in allen Lebensbereichen spürbar wurde. Dementsprechend konstatiert Frau Niesen eloquent, dass die spezifischen Erfahrungen der untersuchten Frauen sie weder dem Idealbild der „modernen Frau“, noch dem traditionellen Bild des späten 19. Jahrhunderts zuordenbar machen. Vielmehr sind sie gekennzeichnet durch Charakteristiken und Erfahrungen beider Pole innerhalb derer sie versuchten, individuell und selbstbestimmt sowohl mit den Herausforderungen der Moderne als auch den weiterhin bestehenden traditionellen Geschlechterschranken umzugehen.

Frau Niesen liefert damit einen innovativen und wegweisenden Beitrag zum Verständnis der Rolle von Frauen und ihres Selbstbilds in der Weimarer Republik, für den sie die Jury mit Freude mit dem Hugo-Preuß-Preis 2022 auszeichnet. 

Geiling_2021

Hendrik Geiling, M.A.

Das Auswärtige Amt und der Aufstieg des italienischen Faschismus 1919-1925

Masterarbeit an der Philipps-Universität Marburg, betreut von Prof. Dr. Eckart Conze und Dr. Andrea Wiegeshoff

Aus der Laudatio der Jury:

Mag sich der Titel der Masterarbeit von Hendrik Geiling auf den ersten Blick noch recht bescheiden, wie eine nüchterne Analyse der deutsch-italienischen Diplomatigeschichte der Zwischenkriegszeit lesen, so verbirgt sich dahinter vielmehr ein beeindruckender und äußerst geschickt umgesetzter Beitrag zur Geschichte der politischen Kultur der Weimarer Republik. Anstelle der bereits durchaus gut aufgearbeiteten deutschen Außenpolitik gegenüber Italien soll demnach nachgezeichnet werden, in welchem Maße sich die erhebliche personelle Kontinuität vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus auch in überschneidenden antidemokratischen und faschistophilen Einstellungsmustern innerhalb der diplomatischen Funktionselite niederschlug, und welche Rolle die Rezeption des frühen italienischen Faschismus für die späteren Sympathien von bedeutenden Teilen des Diplomatenkorps für den Nationalsozialismus spielte.

Was die Arbeit von Herrn Geiling insbesondere gegenüber anderen, inhaltlich ähnlich gelagerten Untersuchungen auszeichnet, ist die konzeptionelle Anlage und das umfassende Quellenmaterial der Studie. Anstelle eines häufig üblichen biografischen oder auf einzelne Personen zentrierten Ansatzes, entscheidet er sich bewusst, gerade die vermeintlich „unpolitischere“ interne Dienstkommunikation des Auswärtigen Amtes zum zentralen Untersuchungsgegenstand zu machen. Als sei dies noch nicht ambitioniert genug für eine Masterarbeit, wählt der Autor zusätzlich gezielt die Frühphase des italienischen Faschismus und nicht etwa einen späteren Zeitpunkt als Untersuchungszeitraum, an dem sowohl die Mussolini-Herrschaft als politisch etabliert als auch die Ansichten der betreffenden Akteure im Auswärtigen Amt hierüber als gefestigt anzusehen wären. Dieses Vorgehen ermöglicht es Herrn Geiling, sehr differenziert sowohl die zeitliche Entwicklung der politischen Einstellungen des deutschen Diplomatenkorps als auch die Prävalenz einzelner Wahrnehmungsmuster innerhalb der Gesamtheit des Auswärtigen Amtes nachzuzeichnen. War das grundsätzliche Verhältnis innerhalb der Mehrheit der Diplomatenelite während der „Bewegungsphase“ zum italienischen Faschismus noch ambivalent, so zeigt der Autor äußerst überzeugend auf, wie mit der Etablierung und Festigung der faschistischen Herrschaft diese auch immer deutlicher von konservativ bis national gesinnten Diplomaten als geeignetes Vorbild zur Überwindung der demokratischen Weimarer Ordnung wahrgenommen wurde.

Herr Geiling liefert damit einen weiteren gewichtigen und analytisch exzellent umgesetzten Baustein zu unserem Verständnis der bewussten Zerstörung der ersten deutschen Republik durch antidemokratische Kräfte in den Funktionseliten des Weimarer Staates. Die Jury freut sich daher seine hervorragende Masterarbeit mit dem Hugo-Preuß-Preis 2022 auszeichnen zu dürfen.

Matthias-Erzberger-Preis für die beste Bachelorarbeit

 Kreutzmann_2021

Paula Kreutzmann, B.A.

Zwei Ärzt*innen im Kampf gegen den Paragraphen 218. Antisemitismus und Antifeminismus in Debatten um Schwangerschaftsabbrüche 1931

Bachelorarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, betreut von Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein und PD Dr. Bettina Bock von Wülfingen

Aus der Laudatio der Jury:

In ihrer exzellenten Bachelorarbeit geht Paula Kreutzmann weit über den erwartbaren Anspruch einer üblichen „undergraduate“-Arbeit hinaus. So ist bereits die Zielstellung, die Klärung der abstrakten Frage, ob sich ein ideologischer Zusammenhang zwischen Antifeminismus und Antisemitismus diagnostizieren lässt, höchst anspruchsvoll und schwerlich auf 40 Seiten zu beantworten. Doch die Autorin beweist hierbei herausragendes Geschick im Verdichten dieser abstrakten Problematik auf einen einzelnen Kristallisationspunkt, der wiederum geeignet ist, allgemeinere analytische Schlüsse zu ziehen. Konkret greift Frau Kreutzmann zwei Gerichtsfälle aus der Spätphase der Weimarer Republik auf, um das potentielle ideologische Zusammenspiel von Antisemitismus und Antifeminismus direkt greifbar zu machen. Anhand der Verhaftung und Anklage der Ärztin Else Kienle und des Arztes Friedrich Wolf im Jahr 1931 wegen Verstoßes gegen den § 218 RStGB untersucht sie die Rezeption der Fälle durch verschiedene Zeitungen auf das Erscheinen und potentielle Verbindungen beider Motive. Hierbei gelingt es der Autorin überzeugend nachzuweisen, dass in der nationalsozialistischen, aber in Teilen auch konservativen Presse eine klare Verknüpfung antisemitischer und antifeministischer Ressentiments bspw. über Ritualmordmotive oder einen vermeintlich gezielt lancierten „Sittenverfall“ durch die Sexualreform stattfindet. Auffällig hierbei, so die Autorin, ist aber auch, dass der konkrete rechtliche Vorwurf des Verstoßes gegen den § 218 in der NS-Presse in den Hintergrund tritt und als bloßer Aufhänger zur Verbreitung allgemeinerer antisemitischer Stereotype und nationalsozialistischer Propaganda genutzt wird.

Was die Arbeit von Frau Kreutzmann auszeichnet, ist nicht nur die überaus fundierte und methodisch hervorragend umgesetzte Analyse des Quellenmaterials, sondern auch die exzellente Umsetzung des breiten Anspruchs durch eine umfassende und facettenreiche Einbettung des Untersuchungsgegenstandes in unterschiedliche Kontexte. Neben Bezügen zur aktuellen Debatte über den § 219a StGB (die den Rahmen der Arbeit bilden), werden u.a. auch die Entwicklung des § 218 vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, die Rolle der Biografien und des sozialpolitischen Engagements Wolfs und Kienles für die Rezeption der Prozesse und eine abstrakttheoretische Diskussion von Abgrenzung und Überschneidungen zwischen Antifeminismus und Antisemitismus vorgenommen. Gerade die enge Verknüpfung der historischen Analyse mit der gegenwärtigen Auseinandersetzung über den § 219a StGB deckt sich in besonderem Maße mit dem Anspruch des Matthias-Erzberger-Preises, aus der Analyse der ersten deutschen Republik Erkenntnisse für die politischen und wissenschaftlichen Herausforderungen der heutigen Demokratie zu erarbeiten. Die Jury freut sich daher, den Erzberger-Preis für das Jahr 2022 an Frau Kreutzmann verleihen zu dürfen.

Arnold-Freymuth-Preis für Recht und Demokratie

Im Rahmen der diesjährigen Festveranstaltung verlieh zudem zum ersten Mal die Arnold-Freymuth-Gesellschaft in Kooperation mit der Forschungsstelle Weimarer Republik den Arnold-Freymuth-Preis für Recht und Demokratie für wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Arbeiten aus den Jahren 2018 und später. Der Preis wird alle zwei Jahre an Personen verliehen, die Zivilcourage gezeigt und sich so um den demokratischen Rechtsstaat verdient gemacht haben. Weitere Informationen zum Preis und zur Gesellschaft finden Sie auf der Homepage der Arnold-Freymuth-Gesellschaft.

Barczak_2022

Prof. Dr. Tristan Barczak, LL.M.

Der nervöse Staat: Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft

Habilitation an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, betreut von Prof. Dr. Fabian Wittreck und Prof. Dr. Oliver Lepsius

Aus der Laudatio des Präsidenten der Arnold-Freymuth-Gesellschaft Prof. Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht a.D.:

Die Arnold-Freymuth-Gesellschaft zeichnet Herrn Professor Dr. Tristan Barczak für seine rechtswissenschaftliche Habilitationsschrift „Der nervöse Staat: Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft“ mit ihrem neu geschaffenen Forschungspreis aus. Das vom Autor für seine Habilitation ausgewählte Thema ist in der im dritten Jahr befindlichen COVID-19-Pandemie hochaktuell. Die Arbeit stellt dar, wie Deutschland von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik bis in die Zeit der Bonner und Berliner Republik auf vergleichbare Notstände und Notlagen reagiert hat. Bei der Beantwortung der Frage, auf welche Weise sich Ausnahme- und Normalzustand abgrenzen lassen und welche rechtlichen Mittel zur Erhaltung der Integrität der Normallage erforderlich sind, hat der Preisträger die Erkenntnisse der Weimarer Staatsrechtslehre wie auch das Modell der Weimarer Reichsverfassung als besonders ertragreich berücksichtigt. Damit hat der Autor nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Juristischen Zeitgeschichte geschrieben, sondern auch die Bedeutung der Weimarer Republik angemessen gewürdigt. Die Einbeziehung der ersten deutschen Republik entspricht der Zielsetzung der Arnold-Freymuth-Gesellschaft. Diese ist in Erinnerung an den von den Nazis am 14. Juli 1933 in den Freitod getriebenen republikanischen Senatspräsidenten am Kammergericht Arnold Freymuth gegründet worden. Die Gründung im Jahre 1992 war eine Reaktion auf die damaligen Brandanschläge in Mölln, Solingen und Hoyerswerda. Die Schatten des menschenfeindlichen Rechtsextremismus der Nazizeit kamen wieder zum Vorschein. Im westfälischen Hamm, wo Arnold-Freymuth als Richter am dortigen Oberlandesgericht vor seiner Berufung zum Senatspräsidenten tätig war, fanden sich damals Juristen und Historiker sowie eine engagierte Bürgerschaft, die mit der Gründung des Vereins ein Zeichen gegen die Wiederkehr dieses Ungeistes setzen wollten. Heute besteht eine ähnliche Herausforderung. Wir müssen sehen, wie Rechtsextremisten Arm in Arm mit Impfgegnern versuchen, die staatliche Infektionsprävention als Strategie zur Herbeiführung einer totalitären Diktatur zu denunzieren. Vereinzelt beteiligen sich sogar Amts- und Familienrichter an dem Versuch, unseren freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat auf diese Weise in den Augen der Bürgerschaft zu delegitimieren. In dieser Situation gibt die Arbeit des Preisträgers die nötige wissenschaftliche Orientierung. Sie zeigt auf, welche rechtlichen Mittel zur Erhaltung der Integrität der Normallage auch in dieser krisenhaften Zeit geboten sind. Dafür danken wir dem Preisträger.